Hartes Leben
Talpflanzen und Gebirgspflanzen auf dem Gelände
Der Unterschied zwischen wildwachsenden Gebirgs- und Talpflanzen ist unverkennbar und auf dem kurzen, aber steilen Anstieg von Grünbach zur Geländehütte gut zu erkennen: Während sich im Tal der Grün- und Blumenanteil die Waage halten, überrascht auf dem Berg zur Sommerzeit eine Blütenpracht, die alles Grün zu verdecken scheint. Dafür bleibt jede Gebirgspflanze klein, weil ihr nur eine kurz bemessene Wachstumsphase zur Verfügung steht.
Noch deutlicher tritt der Unterschied im Wurzelwerk hervor: Eine Gebirgspflanze entwickelt ein fünfmal längeres Feinwurzelsystem als eine Talpflanze. Das sind sichtbare Merkmale, die schon bei rascher Beobachtung auffallen. Noch mehr Erstaunen erregt die Fortpflanzung. Der Mangel an bestäubenden Insekten hat bei Gebirgspflanzen überwiegend zur Selbstbestäubung, im extremen Lagen sogar zur vegetativen Vermehrung geführt: Wurzelausläufer, Brutknospen, der Zerfall von Sprossbündeln in Tochtertriebe oder die Bildung von Tochterrosetten ermöglichen das Fortleben der Pflanze. Noch überraschender ist, dass Gebirgspflanzen ihr Volumen hauptsächlich aus schwachem und mittlerem Licht bei niederen Temperaturen schöpfen. Etwa 2/3 der Pflanze stammen aus diesen scheinbar ungünstigen Lebensbedingungen.
Wachstum und Stoffwechsel begnügen sich mit wesentlich niedrigeren Temperaturen als Talpflanzen. Auch Nachtfröste wirken sich auf die Fotosynthese (Umwandlung von Licht und dem in der Luft enthaltenen Kohlendioxid im lebenswichtige Zuckermoleküle) nicht nachteilig aus. Die absoluten Untergrenzen des Stofferwerbs liegen bei -8 und -5 Grad Celsius, die Obergrenze endet bei 45 Grad Celsius.
Auch das erstaunt: Temperaturmessungen im Sprossbereich der Zwergprimel ergaben Werte von 38 Grad Celsius. Manche Gebirgsflechten bauen noch bei -20 Grad C Körpervolumen auf, sind absolut frosthart, das heißt, sie überleben -196 Grad Celsius, und schalten bei Erwärmung in kürzester Zeit aus der Kältestarre auf volle Aktivität. Wunder am Wegrand, die Wetter und Klima nicht zu fürchten brauchen, wohl aber die Unvernunft des angeblich vernünftigsten Lebewesens dieser Erde, des Menschen, der mit immer neuen Sportgeräten und durch die Errichtung überbreiter Forststraßen in der hochentwickelten Pflanzenwelt ungeheuren Schaden anrichtet: Zum Freizeitvergnügen und aus unstillbarer Profitgier.
Skizzen nach Vorlagen von H.Reisigl und R.Keller -Alpenpflanzen im Lebensraum – Stuttgard – Jena – New York 1994